Vom Pinselstrich zu Pixeln: 100 Jahre Institut für Kartografie und Geoinformation
Das Institut für Kartografie und Geoinformation der ETH Zürich feierte eben sein 100-Jahre-Jubil?um mit einem Symposium für Fachleute. Eine Festschrift gibt vertiefte Einblicke in 170 Jahre Kartografie an der Hochschule und richtet sich auch an Laien, die sich für Kartenkunst und gut erz?hlte Geschichte(n) interessieren.
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In Kürze
- Das Institut für Kartografie und Geoinformation der ETH Zürich feiert dieses Jahr sein 100-j?hriges Bestehen.
- Die Festschrift ?Ingenieure der Kartenkunst? beleuchtet 170 Jahre Kartografie und zeigt auf, wie Kartografie zwischen Wissenschaft, Politik und Bildung vermittelt.
- Mit der Herausgabe von Atlanten, dem Einsatz digitaler Methoden und seinem internationalem Engagement pr?gt das Institut die Kartografie bis heute.
Ob Google Maps, eine Wanderkarte oder ein Weltatlas: Wir nutzen diese Werke im Alltag, um uns zu orientieren oder zu informieren. Dass Karten aber auch eine politische Komponente haben, rief uns jüngst die von einem Staatspr?sidenten angeordnete Namens?nderung des ?Golfs von Mexiko? in ?Golf von Amerika? in Erinnerung.
Der Schweizer Weltatlas, dem viele von uns im Schulunterricht zum ersten Mal begegnet sind, beschreibt die Karte als Resultat eines Interpretations-, Klassierungs- und Abstraktionsprozesses. Daraus geht bereits hervor, dass eine Karte immer auf subjektiven Entscheiden basiert.
Festschrift zu mehr als einem Jubil?um
Erfrischend subjektiv ist auch die Festschrift ?Ingenieure der Kartenkunst? abgefasst, die das Institut für Kartografie und Geoinformation der ETH Zürich anl?sslich seines 100-j?hrigen Bestehens herausgegeben hat. Hauptautor Lorenz Hurni, der aktuelle Professor für Kartografie an der ETH Zürich, und seine Mitautoren scheuen sich nicht vor Einordnungen und klaren Aussagen, was das Werk lebendig und lesenswert macht.
Gepr?gt ist das Werk durch die Feststellung, dass die Kartografie an der ETH immer wieder von einer Marginalisierung bedroht war. Entsprechendes Gewicht erh?lt die Institutsgründung, auch wenn diese haupts?chlich auf Pinsel und Farbe beruhte. Doch dazu sp?ter.
Das Gewicht, das die Autoren dem Institut beimessen, kommt in den beiden Untertiteln der Festschrift zum Ausdruck, die eigentlich zwei Jubil?en ant?nen. ?100 Jahre Institut für Kartografie und Geoinformation? bezieht sich auf das ?richtige? Jubil?um, umfasst aber nur vier der bisher sechs ETH-Professoren am Institut. Der zweite Untertitel ?170 Jahre Kartografie an der ETH Zürich? macht deutlich, dass das Werk die ganze Zeit seit der Gründung der Hochschule abdeckt.
Die Geschichte der Kartografie ist ein wichtiger Teil der Geschichte der ETH Zürich. So erf?hrt man viel über die Gründung des Polytechnikums im Jahre 1855 und seine Funktionsweise über die ganzen Jahre. Die Festschrift liefert – immer mit dem Fokus auf die Kartografie und Geoinformation – generelle Einsichten darüber, wie Professoren berufen wurden (und werden), wie die Hochschule in den verschiedenen Epochen organisiert war und welche Faktoren zu Anpassungen von Lehrinhalten führen.
Details zu Berufungen, zur Ausstattung von Professuren, der Suche nach Drittmitteln, aber auch zu Rivalit?ten unter den Wissenschaftlern machen die Lektüre kurzweilig. Zudem bietet die Festschrift Informationen über die Herkunft und Interessen der Professoren. Nicht nur im Text, sondern auch in Form von Karten, Zeichnungen und Fotos.

Ursprünge der Schweizer Kartografie
Jedem der fünf ETH-Kartografie-Professoren und dem aktuellen Professor für Geoinformations-Engineering ist ein Kapitel gewidmet. Ihnen vorangestellt ist eines zu den Ursprüngen der Schweizer Kartografie. Dieses führt uns ins 16. Jahrhundert, als in der Schweiz die ersten Karten und Reliefs entstanden – oft mit einer milit?rischen Stossrichtung. Bemerkenswert ist, dass schon die damaligen Werke international Anerkennung fanden.
Aus Zürcher Sicht interessant sind Namen wie Johann Jakob Scheuchzer, dem eine Strasse in der N?he des ETH-Hauptgeb?udes gewidmet ist. Er erfuhr Anfang des 18. Jahrhunderts mit seiner Karte namens ?Nova Helvetiae tabula geographica? grosse Aufmerksamkeit und trug mit seiner internationalen Ausstrahlung zur Entstehung des englischen Alpentourismus bei. Neben dem Milit?r und dem Tourismus waren Schulen der dritte Treiber der Kartografie.
Mitte des 19. Jahrhunderts machte unter Fachleuten die Dufour-Karte Furore und wurde auch mal als ?vorzüglichste Karte der Welt? bezeichnet. Innerhalb der Schweiz galt die erste korrekte kartografische Darstellung des Landes als erste grosse Leistung des eben erst gegründeten Bundesstaates und war damit auch identit?tsstiftend. Die Karte wurde vom Topographischen Bureau publiziert, das in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als unangefochtenes Kompetenzzentrum für Kartografie galt.
Die ersten zwei Professoren als Vorl?ufer des Instituts
Johannes Wild wurde vom neu gegründeten Polytechnikum, wie die ETH bis 1911 hiess, als erster Professor für Kartografie verpflichtet. Als ehemaliger Leiter des Topographischen Bureaus in Zürich sei er keine Gefahr für die Vormachtstellung der “grossen Schwester” (der heutigen swisstopo) in Bern gewesen, stellen die Autoren gleich zu Beginn des Kapitels fest. Er wird als ?usserst vielseitig beschrieben, habe aber aus Sicht der Kartografie seine gr?ssten Leistungen im Kartenwesen vor der Berufung zum Professor erbracht.

An der neu gegründeten Hochschule drehte sich zun?chst alles um die Lehre – auch in der Kartografie. Doch Wilds Interesse habe auch in den folgenden Jahrzehnten vor allem der Ausbildung von Ingenieuren gegolten, welche für die grossen Infrastrukturbauten wie die Gotthardbahn dringend ben?tigt wurden. Als er 1889 im Alter von 75 Jahren zurücktrat, übernahm Fridolin Becker seine Lehrveranstaltungen, der bereits als Assistent bei Wild arbeitete.
Die Kartografie fristete ein stiefmütterliches Dasein, schreiben die Autoren. Dies ?usserte sich etwa im langsamen Prozess, den Becker durchlief, bis er zum ordentlichen Professor bef?rdert wurde. Der Kartografie habe für Forschung auch die Infrastruktur gefehlt. Neue, für die damalige Zeit sehr innovative Karten habe Becker nur dank Auftr?gen von Dritten ausarbeiten k?nnen, insbesondere des Schweizer Alpenclubs SAC.
Ein besonderes Anliegen war ihm, Karten breiten Volksschichten zug?nglich zu machen. So lag sein Fokus auf Schulkarten und Atlanten. Ein Atlas für die Volksschule sollte aber erst sein Nachfolger Eduard Imhof fertigstellen k?nnen. Infolge Krankheit hatte dieser bereits in Beckers letzten Jahren die Lehrveranstaltungen übernommen.
Die Gründung des Instituts
1925 wurde Imhof zum ausserordentlichen Professor ernannt und bat um einen eigenen Raum. Als ihm diese Bitte gew?hrt wurde, wies er die Maler an, über die Tür des Raums ?Kartographisches Institut? zu schreiben: Der Anlass für die diesj?hrige Feier und die Festschrift.
Eine klare Regel, was an der ETH Zürich ein Institut ausmacht, fehlte damals. An der Tatsache, dass Imhof der einzige Professor des Instituts und seine Professur mit bescheidenen Mitteln ausgestattet war, ?nderte die Bezeichnung aber nichts. Eine zweite Professur sollte erst 2010 mit der Berufung von Martin Raubal hinzukommen.
Atlanten für die Schweiz und internationaler Ruf
Die Episode illustriert, dass mit Imhof eine durchsetzungsstarke Pers?nlichkeit das Szepter übernommen hatte. Ihm verdanken wir etwa die Karten der Schweiz im Massstab 1:25’000. In einem ?siebenj?hrigen Landeskartenkrieg? verhinderte er gemeinsam mit Alliierten aus dem Alpenklub, Wissenschafts- und Berufsverb?nden, dass die Landestopographie diesen Massstab abschaffte. Den gewonnenen Kampf betrachtete er als seinen gr?ssten beruflichen Erfolg, wie die Autoren schreiben.
Seine Beharrlichkeit kam auch beim Projekt des Landesatlas zum Ausdruck. Diese Idee lancierte er 1939 im Zug der Landesausstellung, und es sollte über 20 Jahre dauern, bis er den Auftrag des Bundesrats erhielt. 1965 erschien dann der ?Atlas der Schweiz?, der über 400 Karten enthielt, in deutscher, franz?sischer und italienischer Sprache. Imhof bezeichnete ihn als sein bedeutendstes Werk. Dies, nachdem er bereits 1932 den Mittelschulatlas und zwei Jahre sp?ter den Sekundarschulatlas publiziert hatte.

Den Atlanten ist in der Festschrift ein separates Kapitel gewidmet. Sie h?lt fest, dass Imhof ?mit diesen Werken die weltweit als ?Swiss Style? anerkannte kartografische Tradition der (farbigen) Reliefzeichnung (relief shading) begründete, die bis in die Gegenwart hineinreicht?. Imhof engagierte sich auch international, so bei der Gründung der Internationalen Kartographischen Vereinigung, zu deren erstem Pr?sidenten er 1961 gew?hlt wurde. Unz?hlige weitere Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Organisationen und Gremien sowie Preise und Ehrungen trugen zu seinem internationalen Ruf bei – und damit auch dem des ETH-Instituts.
Digitalisierung und Umzug auf den H?nggerberg
Bei dieser Exzellenz überrascht aus heutiger Sicht, dass auch für Imhof die Lehre im Zentrum stand und die Forschung von ihm eher kleingeredet wurde. Das sollte sich erst in den 1970-er Jahren ?ndern, als sich die ETH generell zu einer internationalen Forschungsuniversit?t zu entwickeln begann.
Ernst Spiess, ein Schüler Imhofs, der 1964 zum Professor für Kartografie gew?hlt wurde, nutzte die Chancen, welche die Hochkonjunktur bot, und machte sich einen Namen als Pionier in der computergestützten Kartografie.
Im Zuge des Umzugs auf den H?nggerberg Mitte der 1970-er Jahre konnte Spiess eine leistungsf?hige Zeichenanlage beschaffen und entwickelte das Institut zu einer gesuchten Anlaufstelle in kartografischen Fragen, sowohl für interne wie auch für externe Institute, Amtsstellen und Firmen. Gleichzeitig war mit der Forschungsinfrastruktur die Voraussetzung für Dissertationen geschaffen. 1980 erschien die erste Dissertation in Kartografie.
Gleichzeitig unternahm Spiess grosse Anstrengungen in der Lehre, um die Kartografie als Vertiefung für Studierende attraktiv zu machen. Die Studienrichtung hatte schon immer um Studierende zu buhlen. Allerdings ist auch der Arbeitsmarkt beschr?nkt, wenn man den Berechnungen von Spiess folgt, der die Anzahl Stellen in der Schweiz auf rund 200 sch?tzte, davon 25 in leitender Position.
Den Anstrengungen von Spiess, im Institut eine zweite Professur einzurichten, war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1996 kein Erfolg beschieden. Dies sollte erst seinem Nachfolger gelingen.
Eine zweite Professur und ein Blick in die Zukunft
Lorenz Hurni war nach seinem Diplomabschluss Assistent von Spiess und sein vierter Doktorand. Er war zudem der erste Professor in der Geschichte der Kartografie an der ETH Zürich, der das ordentliche Berufungsverfahren vollst?ndig durchlief.
Als neuen Forschungsschwerpunkt etablierte Hurni die Vektorisierung von historischen Karten, bei der auch Methoden des maschinellen Lernens eingesetzt werden. Ziel ist es, aus diesen Datenquellen plausible Daten zu gewinnen, welche Vergleiche mit heutigen pr?zisen Geodaten zulassen. Solche Zeitreihen sind beispielsweise für Renaturierungen von Gew?ssern interessant.

Wie seine Vorg?nger ist auch Hurni Chefredaktor der Atlanten, bei denen er angesichts von anstehenden technischen ?nderungen ein grosses Potenzial an kartografischen Forschungsfragen ortet.
Nicht zuletzt dank seinem institutionellen Wissen, das er sich in verschiedenen Funktionen für das Departement und die ETH aneignete, gelang es Hurni, eine zweite Professur für das Institut zu gewinnen.
Mit dem Zugang von Martin Raubal als Professor für Geoinformations-Engineering im Jahre 2011 ?nderte sich nicht nur der Name des Instituts in Kartografie und Geoinformation, es verbreiterte sich auch wesentlich mit Forschungsanwendungen im Energie- und Mobilit?tsbereich. Damit wurde das Portfolio des Instituts auch bei Studierenden immer beliebter.

Die Festschrift

?Ingenieure der Kartenkunst – 100 Jahre Institut für Kartografie und Geoinformation – 170 Jahre Kartografie an der ETH Zürich? (272 Seiten, 220 Abbildungen) von Prof. Dr. Lorenz Hurni. Mitautoren: Prof. Dr. Martin Raubal, Dr. Thomas Eichenberger, Dr. Christian H?berling, Dr. René Sieber
Die Festschrift ist Anfang September in einer deutschen und einer englischen Version erschienen. Sie kann für CHF 50 (inkl. Versand) direkt beim Institut bezogen werden: Bestellung. Ausserdem ist sie online in der Research Collection gratis verfügbar.