«Die Wissenschaft ist kein Lieferdienst»
?ber 20 Jahre lang war Michael Hagner Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hielt der Wissenschaft den Spiegel vor und setzte sich für ihre Freiheit ein. Was er zu seinem Abschied über die Wissenschaft zu sagen hat.???
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Der Wissenschaft weht ein rauer Wind entgegen. Autorit?re Populisten weltweit wollen sie unter ihre Kontrolle bringen, so auch in den USA: Die Trump-Regierung kürzt Universit?ten gezielt die F?rdermittel und setzt sie damit unter Druck. Auf Regierungswebseiten verschwinden pl?tzlich Informationen zu bestimmten Forschungsbereichen. Wenn Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich, über diese Entwicklungen spricht, w?hlt er deutliche Worte: ?Ich fühle mich an die dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts erinnert?.
Für Hagner zeichnet sich diese Erosion wissenschaftlicher Freiheit schon seit L?ngerem ab. ?ber zwei Jahrzehnte lang hat er beobachtet, wie die Wissenschaft sich zunehmend politischem und ?konomischem Druck beugte. Dabei war er ein Seismograf für diese Ver?nderungen und setzte sich immer wieder pointiert für die Forschungsfreiheit ein. Denn nur eine freie und unabh?ngige Wissenschaft k?nne als gesellschaftliches Korrektiv fungieren: ?Im besten Fall hilft sie der Gesellschaft, sich selbst und ihre Umwelt besser zu verstehen. Für eine Demokratie ist das unverzichtbar?, sagt Hagner.
Allerdings warnte er stets auch vor überh?hten Erwartungen an die Forschung. Vor allem in der Corona-Pandemie festigte sich ein Bild von Wissenschaft als Lieferdienst für schnelle und einfache L?sungen. ?Diesem Anspruch kann die Wissenschaft niemals gerecht werden, denn sie ist ein ergebnisoffener Prozess, der Irrtümer zul?sst und manchmal auch ins Leere l?uft?, sagt der emeritierte Professor.
Abschiedsvorlesung Michael Hagner
Thema: Homo acerebralis. Der Wandel vom Gehirn zum Golem
Wann: 25. September 2025, 17.15 – 18.30 Uhr
Wo: HG F 30, ETH Hauptgeb?ude, R?mistrasse 101, 8092 Zürich
Vom Gehirn zur Gesellschaft
Michael Hagner studierte Medizin und Philosophie an der Freien Universit?t Berlin. Nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin arbeitete er zun?chst als Neurophysiologe, bevor er sich ganz der Wissenschaftsforschung zuwandte. Nach Anstellungen an der Medizinischen Universit?t Lübeck, an der Georg-August Universit?t G?ttingen und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin erhielt er 2003 einen Ruf an die ETH Zürich.
In seinen frühen Arbeiten besch?ftigte sich Hagner mit dem Gehirn – etwa in der Buch-Trilogie ?Homo cerebralis? (1997), ?Geniale Gehirne? (2004) und ?Der Geist bei der Arbeit? (2006). Darin zeigte er, dass das Gehirn nie nur ein Organ, sondern immer auch ein kulturell aufgeladener Gegenstand war. Er arbeitete heraus, wie sich das Bild des Gehirns im Lauf der Jahrhunderte wandelte – und wie eng dieses Bild mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Intelligenz, Geschlecht oder Kriminalit?t verknüpft war.
So hat gem?ss Hagner die Hirnforschung mit Konzepten wie dem ?m?nnlich-autistischen Gehirn? und dem ?weiblich-empathischen Gehirn? viele Vorurteile mit wissenschaftlicher Autorit?t versehen und damit sogar verst?rkt, obwohl diese Zuschreibungen tief in kulturellen Vorurteilen wurzelten.
Damit ist auch ein Grundzug seiner Forschung umrissen: Er analysierte, wie wissenschaftliche Theorien, Methoden und Praktiken zustande kamen, wie sie medial vermittelt und regelm?ssig politisch, ?konomisch oder kulturell instrumentalisiert wurden.
Der Mensch zwischen Natur und Kultur
Vom Gehirn ausgehend, erweiterte der Wissenschaftshistoriker seinen Blick auf die Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Dabei untersuchte er, wie die Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert versuchte, den Menschen zwischen Natur und Kultur zu verorten – was von Anfang an zu Widersprüchen und Unbehagen führte.
Anhand historischer Quellen arbeitete Hagner die Doppeldeutigkeit der Aufkl?rung heraus: ?Die Aufkl?rung wirkte nicht nur emanzipatorisch, sondern zementierte gleichzeitig koloniale und rassistische Denkmuster?, erkl?rt er. Auch Geistesgr?ssen wie Kant h?tten sich in Theorien verloren, die Menschen aus anderen Weltgegenden die Kulturf?higkeit absprachen.
Diese Arbeiten führten Hagner regelm?ssig zur grundlegenden Frage zurück: Wie spricht die Wissenschaft über den Menschen – und wer spricht dabei für wen? Mit seiner historischen Perspektive trug Hagner dazu bei, die ethischen und politischen Spannungsfelder der Humanwissenschaften sichtbar zu machen. Dabei zeigte er immer wieder, dass die in der Forschung verwendeten Kategorien nie neutral sind, sondern auch gesellschaftliche Positionen reflektieren.
Das Buch als Pl?doyer für Tiefe und Sorgfalt
In seiner Forschung besch?ftigte sich Hagner auch mit dem wissenschaftlichen Publizieren. In einer Zeit, in der Open Access zur Norm wurde und einige wenige, globale Verlage mit ?ffentlich finanzierter Forschung Milliardengewinne erzielten, warnte er vor einer ?konomisierung des Wissens.
?Früher haben Leser bezahlt, heute zahlen die Autoren. Viele Forschende k?nnen sich das nicht leisten. Der Zugang zu Open-Access-Zeitschriften wird damit zu einem Privileg für Forschende mit genügend Mitteln?, sagte er. Doch damit nicht genug: Auch die Vielfalt der Buch-Verlage und Publikationsformen würde abnehmen. ?Alles wird standardisiert, alles muss in ein Format passen. Für die Geisteswissenschaften ist das verheerend?, sagt Hagner.
Als Kontrast zum digitalen Publizieren verteidigte Hagner stets das gedruckte Buch als Ausdruck geistiger Tiefe, Sorgfalt und Reflexion. Sein Pl?doyer für das Buch war ein Pl?doyer für Langsamkeit und Komplexit?t in einer Wissenschafts?ffentlichkeit, die mit einer kaum mehr bew?ltigbaren Anzahl an neu erscheinenden Studien konfrontiert ist.
Mit dem Intercom Verlag, den junge Forschende an Hagners Professur gründeten, wurde ein Zeichen gesetzt: ?Wir ver?ffentlichen Bücher, die hochwertig gestaltet, aber trotzdem online frei verfügbar sind - unabh?ngig und nicht kommerziell?, sagt Hagner.
Ein kritischer Kopf geht
Mit Michael Hagner verl?sst einer der profiliertesten Wissenschaftshistoriker die ETH Zürich. Der Wissenschaft hat er immer wieder den Spiegel vorgehalten. Mit seinem zuletzt publizierten Buch über die Geschichte von Foucaults Pendel (?Foucaults Pendel und wir?)zeigt er, wie sehr auch die ?ffentliche Demonstration eines kosmischen Vorgangs wie der Erdrotation mit politischen Fragen verbunden ist.
In der Forschung geht es laut Hagner immer seltener um von Neugier getriebene Erkenntnis, sondern um Wissen als wesentlicher Machtfaktor in einem globalen Konkurrenzkampf. Diese Strategie h?lt er für sehr riskant. Denn wenn Universit?ten sich immer ?fter darauf berufen, gesellschaftlich oder unternehmerisch verwertbares Wissen zu erzeugen, dann werde die Wissenschaft zunehmend nach diesen Kriterien bewertet. Für den emeritierten ETH-Professor hat das Konsequenzen: ?Der Beitrag der Wissenschaft zur demokratischen Emanzipation beziehungsweise zur argumentativen Wappnung gegen Fundamentalismen aller Art droht dabei in Vergessenheit zu geraten?, sagt er.
Als Professor an der ETH hat Hagner genau jene Freiheit und Unabh?ngigkeit erlebt, die heute weltweit unter Druck steht. ?Ich bin der ETH dankbar, dass sie mir über 20 Jahre lang den Freiraum gab, meine Forschung zu machen. Das war eine grossartige Erfahrung?.