Warum entstehen in Genf jedes Jahr mehr neue Wohnh?user, w?hrend Zürich Rückg?nge verzeichnet? Weshalb werden in Basel, Genf und Lausanne ?ltere Wohnbauten eher aufgestockt, in Zürich jedoch ersetzt? ETH-Forschende liefern neue Antworten zur Rolle des Wohnbaus und seinen sozialen Folgen.
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In Kürze
- In Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich hat der Wohnungsbau in den letzten zwanzig Jahren verst?rkt zur st?dtischen Innenentwicklung beigetragen.
- Eine Schlüsselrolle bei der Verdichtung spielen Ersatzneubauten, Aufstockungen sowie die Umnutzung von Industrie- und Gewerbefl?chen – mit teils deutlichen Unterschieden zwischen den Agglomerationen.
- W?hrend Ersatzneubauten h?ufig mit h?heren Mieten und Verdr?ngung der Mieterschaft einhergehen, erm?glichen Aufstockungen eine sozial vertr?glichere Nachverdichtung. In der Romandie ist die Verdr?ngung weniger ausgepr?gt.
David Kaufmann, Sie haben im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen die Baut?tigkeit und Verdr?ngung in der st?dtischen Schweiz untersucht. Mit welchem Ziel?
David Kaufmann: Wir haben für die fünf gr?ssten Schweizer Agglomerationen – Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich – untersucht, in welchem Ausmass der Wohnungsbau zur Siedlungsentwicklung nach innen beitr?gt, was ein zentrales Ziel der Schweizer Raumplanung ist. Zudem beschreiben wir, wie sich die Zusammensetzung der Bev?lkerung ver?ndert, wenn ?ltere Wohngeb?ude saniert oder durch Neubauten ersetzt werden. Dazu untersuchen wir verknüpfte Datens?tze von 2000-2023 vom Bundesamt für Statistik.
Wie hat der Wohnungsbau zur Innenentwicklung beigetragen?
In den betrachteten Agglomerationen wird heute dichter und vermehrt innerhalb der Siedlungsgrenzen gebaut – vor allem in den Kernst?dten hat die Bedeutung des Wohnungsbaus für die Innenentwicklung in den letzten zwanzig Jahren zugenommen.
Woran wird dies ersichtlich?
Vor allem bei den neu gebauten Wohnh?usern unterscheidet sich die Entwicklung in den Kernst?dten und in den zentraleren Agglomerationsgemeinden deutlich von jener in den peripheren Agglomerationsgemeinden. W?hrend in den peripheren Gemeinden der Agglomerationen auch nach 2020 noch viele Wohnneubauten auf zuvor unbebautem Land entstanden sind, entsteht der Grossteil der neuen Wohngeb?ude in den Kernst?dten zunehmend auf bereits genutztem Boden. Eine Schlüsselrolle spielen hier Neubauten, die ?ltere Wohnh?user ersetzen, Aufstockungen von existierenden Geb?uden sowie umgenutzte Industrie- und Gewerbeareale.
Welche Bedeutung hat die Umnutzung von Industrie- und Gewerbefl?chen für das Wohnen?
Im Vergleich zu den frühen 2000er-Jahren werden heute deutlich mehr Wohngeb?ude in früheren Industrie- und Gewerbezonen gebaut. Zwischen 2000 und 2004 lag der Anteil von Wohnh?usern, die auf Industriefl?chen errichtet wurden, erst zwischen 6?Prozent in Lausanne und 11?Prozent in Genf. In der Bauperiode 2020 bis 2023 lag er in allen Kernst?dten schon viel h?her – zwischen 35?Prozent in Bern und 63 Prozent in Zürich. Jedoch werden diese Umnutzungsfl?chen in Kernst?dten immer knapper, weil Teile dieses Potentials bereits ausgenutzt wurden.
Wie spiegelt sich diese Entwicklung bei den Wohnungen?
Bei der Umnutzung von Industrie- und Gewerbearealen kommt es zu einer starken Verdichtung mit vielen neuen Wohnungen pro Geb?ude. In Basel zum Beispiel sind von 2020 bis 2023 rund 15 Prozent der neuen Wohngeb?ude auf umgenutzten Arealen entstanden. Das hat zum einen damit zu tun, dass die neuen Wohngeb?ude im Durchschnitt mehr Wohnungen enthalten. Besonders deutlich ist das in Genf und Lausanne. Zum andern ist – bezogen auf die gesamten Agglomerationsgebiete – der Bau neuer Wohngeb?ude in den letzten Jahren nicht gewachsen.
Wie sieht die Entwicklung bei den neuen Wohnungen aus?
Die Anzahl neu gebauter Wohnungen ist – mit Ausnahme von Zürich – in allen betrachteten Agglomerationen deutlich angestiegen, nicht aber die Anzahl der Geb?ude. Dies ist ein Hinweis, dass verdichteter gebaut wird. Wir untersuchten den Nettozuwachs – also die Zahl der neu gebauten Wohnungen abzüglich jener, die durch Abriss verloren gingen. Basierend auf dem Vergleich der Bauperioden 2000–2004 und 2020–2023 betr?gt der j?hrliche Nettozuwachs an Wohnungen zwischen 34 Prozent in Bern und 110 Prozent in Genf. Zürich hingegen verzeichnete in diesem Zeitraum einen Rückgang an neu gebauten Wohnungen von j?hrlich 7?Prozent.
Welche Rolle spielen Ersatzneubauten im Vergleich zur Aufstockung?
Zwischen 2020 und 2023 wurden in allen fünf Agglomerationen deutlich mehr Wohnh?user abgerissen und durch Neubauten ersetzt als bestehende Geb?ude aufgestockt. Das Verh?ltnis reicht von 1,7-mal so vielen Ersatzneubauten in der Agglomeration Bern bis zu 5,4-mal so vielen in der Agglomeration Zürich. In den Kernst?dten sieht es anders aus: Nur in der Stadt Zürich überwiegen die Ersatzneubauten deutlich – hier wurden 4,1-mal so viele Geb?ude ersetzt wie aufgestockt. In Basel, Bern und Genf hingegen wurden insgesamt doppelt so viele Geb?ude aufgestockt wie neu gebaut. Es zeigt sich, dass Aufstockungen zu einer ernstzunehmenden Option für die urbane Innentwicklung werden. Dies ist aus Sicht der Nachhaltigkeit auch sehr sinnvoll, da Aufstockungen ?kologisch und sozial nachhaltiger sind als Ersatzneubauten.
Im Bericht steht, dass Basel, Genf und Lausanne den Siedlungsraum effektiver nutzen als Bern und Zürich. Wieso?
In allen Agglomerationen enthalten die Ersatzneubauten insgesamt mehr Wohnungen als die abgerissenen Wohnh?user. Im Vergleich zu Bern und Zürich haben Basel, Genf und Lausanne von 2020 bis 2023 pro abgebrochene Wohnung rund 1,6- bis 2-mal so viele zus?tzliche Wohnungen gebaut.

?Eine hohe Wohnneubaut?tigkeit führt bei einer aktiven politischen Steuerung nicht zwangsl?ufig zu vielen Leerkündigungen.?David Kaufmann![]()
In Ersatzneubauten und nach Totalsanierungen sind oft die Mieten h?her als in den Altbauten. Welche Auswirkungen hat das?
Wenn Wohngeb?ude ersetzt oder umfassend saniert werden, wird den bestehenden Mieter:innen in den meisten F?llen gekündigt und die neuen Mieten sind betr?chtlich h?her. Dieses Ph?nomen nennen wir in der Fachliteratur Verdr?ngung. Zwischen den fünf Agglomerationen bestehen hier deutliche Unterschiede. In der Agglomeration Zürich waren von 2015 über 2020 über 14'000 Personen betroffen oder 1,02?Prozent der Gesamtbev?lkerung. Damit war die Verdr?ngung in Zürich viel h?her als in den anderen Agglomerationen. Am anderen Ende steht Genf, wo 467 Personen oder 0,08 Prozent der Bev?lkerung verdr?ngt wurden.
Wohin ziehen diese Mieter:innen um?
Viele Mieter:innen, denen gekündigt wurde, ziehen in derselben Gemeinde um: Ihr Anteil liegt zwischen 55 Prozent in der Agglomeration Lausanne und 73 Prozent in der Agglomeration Zürich. Für die Stadt Zürich sind es 62 Prozent. Wie wir in weiteren Forschungsarbeiten feststellen, ziehen diese Personen aber eher in vergleichsweise ?ltere Wohnungen und in Quartiere um mit einem tieferen durchschnittlichen Einkommen.
Welche Personengruppen sind besonders von der Verdr?ngung betroffen?
Vor allem Personen und Haushalte mit tiefem Einkommen. Auch ?ltere Menschen sind überproportional betroffen. Zudem sind Asylsuchende, anerkannte Flüchtlinge und Personen mit afrikanischem Geburtsland überdurchschnittlich von Verdr?ngung betroffen. Verdr?ngung betrifft somit Personen, die ohnehin sozio-?konomisch benachteiligt sind.
Welche Unterschiede stellen Sie bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen der fünf Agglomerationen fest?
Die St?dte haben einen unterschiedlichen Handlungsspielraum: Genf und Basel sind im Unterschied zu Zürich Stadtkantone. Dies gibt ihnen mehr Handlungsspielraum und sie k?nnen die kantonalen Raumplanungsinstrumente, das kantonale Baurecht und Mietrecht nach urbanen Bedürfnissen gestalten.
Wie ?ussert sich das?
Genf reguliert den Mieterschutz und bauliche Eingriffe strenger und schafft trotzdem mehr Wohnraum als Zürich. Das Gesetz über Abriss, Umbau und Renovierung von Wohnh?usern (LDTR) begrenzt Mietzinserh?hungen nach Abrissen und Sanierungen, wodurch Leerkündigungen finanziell unattraktiv werden. Gleichzeitig erm?glicht ein anderes Gesetz Aufstockungen. Dies tr?gt dazu bei, dass in Genf h?ufiger aufgestockt statt ersetzt wird. Basel-Stadt steuert ebenfalls die Wohnbaut?tigkeiten aktiver, mit neuen Vorgaben zum Schutz preisgünstigen Wohnraums und Diskussionen über eine CO2-Bepreisung von Wohnbauaktivit?ten. Diese traten jedoch erst nach 2023 in Kraft, weshalb unsere Studie deren Wirkung nicht untersucht hat. In Zürich bestehen keine vergleichbaren Regelungen, aber es sind politische Initiativen zu einem st?rkeren Wohnschutz initiiert worden.
Was empfehlen Sie der Politik zur Verbesserung der Wohnsituation in St?dten und Agglomerationen?
Grunds?tzlich geht es um eine aktivere Steuerung im Sinne einer nachhaltigen Baut?tigkeit. Das heisst, Massnahmen zu kombinieren, die mehr Wohnraum schaffen, ohne dabei viele Geb?ude abzureissen und Menschen zu verdr?ngen. Ersatzneubauten etwa lassen sich durch strengere mietrechtliche Vorgaben oder CO2-Abgaben begrenzen. Erg?nzend sind neue raumplanerische Strategien gefragt, um nachhaltigere Wohnbaut?tigkeiten zu erm?glichen. Würden Aufstockungen und anderen sanfte Umnutzungen des Wohnbestandes st?rker gef?rdert, k?nnten mehr Bewohner:innen im selben Haus wohnen bleiben. Auch mit der F?rderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus an zentralen Lagen l?sst sich bezahlbarer Wohnraum schaffen. Beim Abreissen von H?usern empfiehlt sich eine starke Verdichtung und ein etappenweises Bauen. Damit wird erm?glicht, dass die ursprüngliche Bewohnerschaft zu vergleichbaren Konditionen zurückkehren kann.
Was schliessen Sie aus den Unterschieden zwischen Deutsch- und Westschweiz?
Für uns Deutschschweizer:innen lohnt es sich, in die Romandie zu schauen. In den Agglomerationen Genf und Lausanne wurden vergleichsweise wenige Personen verdr?ngt, obwohl diese Regionen die h?chste Wohnneubaut?tigkeit aufwiesen. Dies zeigt, dass eine hohe Wohnneubaut?tigkeit oder die Siedlungsentwicklung nach innen bei einer aktiven politischen Steuerung nicht zwangsl?ufig zu vielen Leerkündigungen führen muss.
Literaturnachweis
Kauer, F, Lutz, E, Büttiker, D, Kaufmann, D. Baut?tigkeit und Verdr?ngung in der st?dtischen Schweiz. Studie der Professur Raumentwicklung und Stadtpolitik (SPUR) an der ETH Zürich im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO). Bern, Zürich, 2025. doi: 20.500.11850/741248